Mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung hat keine Vorfahren mit Schweizer Pass, doch die Redaktionen des Landes spiegeln diese Realität nicht wider. Warum das ein Problem ist.
Von Anna Jikhareva
Wie aktives Engagement für einen diversen Medienbetrieb aussehen kann, hat diesen Sommer die «Washington Post» demonstriert: Mitten in die Black-Lives-Matter-Proteste hinein kündigte das Blatt an, über ein Dutzend Redaktor*innen und Kaderleute mit dem Fokus auf «race» einzustellen. «Dieser historische Moment in der US-Geschichte erfordert, dass wir unsere Berichterstattung überdenken und unsere Ressourcen rund um Fragen von ‹race›, ethnischer Zugehörigkeit und Identität bündeln, die offensichtlich grössere Aufmerksamkeit verdienen», begründete Chefredaktor Marty Baron den Schritt. «Mit diesem Ausbau werden wir unseren Journalismus integrativer gestalten.»
«Dieser historische Moment erfordert, dass wir unsere Berichterstattung überdenken.»
Washington Post
Auch in der Schweiz gingen diesen Sommer Tausende gegen Rassismus auf die Strasse. Eine Reaktion wie jene der «Washington Post» wäre hierzulande allerdings undenkbar. Zwar dominierte das Thema wochenlang die Schlagzeilen, doch wer genauer las, merkte schnell, wie wenig Expertise auf dem Gebiet in den Redaktionen vorhanden zu sein scheint. Die SRF-«Arena» zum Thema mag das krasseste Beispiel interkultureller Inkompetenz sein, Nachhilfe in reflektierter, antirassistischer Berichterstattung hätte es aber vielerorts gebraucht.
Zuweilen hatte man das Gefühl, die Medienschaffenden hätten noch nie von der Existenz diskriminierender Strukturen, von Racial Profiling, von Rassismus gehört. Auch aus diesem Grund haben sich die Neuen Schweizer Medienmacher*innen just in diesem Moment an die Öffentlichkeit gewagt: weil das Diversitätsproblem des Schweizer Journalismus in jenem Moment einmal mehr schmerzlich sichtbar wurde, als entsprechendes Wissen umso wichtiger gewesen wäre.
Mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung hat keine Vorfahren mit eidgenössischem Pass. Migration ist seit Jahrzehnten eine Realität, sie findet statt, hat die Gesellschaft längst verändert. Dies wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Die Redaktionen des Landes spiegeln diese Realität allerdings nicht wider: An den meisten Konferenztischen ist kein Platz für Bindestrichidentitäten.
Die meisten Biografien der Medienschaffenden sind sich ähnlich, die Redaktionen zu männlich besetzt, zu weiss, zu akademisch. Und während viele Medienhäuser Frauenförderung längst zur Chefsache erkoren haben, sich dort langsam, aber sicher etwas tut, steht die Schweiz bei der Förderung von Menschen mit Migrationsgeschichte noch ganz am Anfang.
Die Redaktionen sind zu männlich besetzt, zu weiss, zu akademisch.
Verlässliche Zahlen – ja, auch das ist schon Ausdruck der Problematik – zu dieser Misere existieren nicht. Schätzungen gehen aber davon aus, dass zwei bis drei Prozent der Schweizer Journalist*innen Migrationsgeschichte haben. In Deutschland, wo sich viele Redaktionen schon länger um Diversität bemühen, ist gerade eine Studie mit ernüchterndem Ergebnis erschienen: Von 126 befragten Chefredaktor*innen sind 118 Deutsche ohne Migrationshintergrund, «kein Chefredaktor und keine Chefredaktorin, der oder die Schwarz ist, aus einer muslimisch geprägten Familie oder einer der grössten Einwanderergruppen stammt.» Für die Schweiz dürfte das Bild noch düsterer ausfallen.
Im Journalismus geht es darum, Geschichten zu erzählen. Um einen Blick für Themen, für Relevanz, einen Blick auf die Welt. Geprägt ist dieser Blick noch viel zu oft von Leuten, die einen ähnlichen Ausschnitt der Welt kennen. Dabei gehen die Stimmen jener unter, die aufgrund biografischer Expertise eine andere Sicht einbringen könnten. Denen womöglich auffallen würde, wenn in einer Sendung mit dem Titel «Jetzt reden wir Schwarze» drei von vier Redepulten in der ersten Reihe von Weissen besetzt sind.
Journalismus ist nicht einfach die Wiedergabe von Fakten, sondern bringt im besten Fall auch eine Erfahrung und eine Haltung zum Ausdruck – und die sind stets durch die eigene Biografie bestimmt. Es ist nicht nur wichtig, wie über Themen berichtet wird, sondern auch wer darüber berichtet. Weil es einen Unterschied macht, wer eine Sprechposition erhält und wessen Name unter dem Leitartikel steht.
Es ist nicht nur wichtig, wie über Themen berichtet wird, sondern auch wer darüber berichtet.
Die meisten Journalist*innen befassen sich mit Themen, die sie selbst interessieren, die sie am Schluss in irgendeiner Weise auch selbst betreffen. In einer homogenen Redaktion können Geschichten über Ausgrenzung, Rassismus oder Sexismus deshalb leicht untergehen. Finden die Themen doch statt, behandelt man sie oft ungeschickt bis ignorant. People of Color oder Menschen mit fremd tönenden Namen kommen oft nur dann vor, wenn Migration als Problem oder Anomalie verhandelt wird. Oder ist in «10 vor 10» schon mal ein Afroschweizer zur Bundesratswahl befragt worden, eine junge Frau mit Kopftuch zur SVP? Nicht als Exot, sondern als Mitbürgerin?
Selbst wenn man rein ökonomisch argumentieren würde, ist es übrigens unverständlich, dass die meisten Medien so leichtfertig auf diese Stimmen verzichten. Mit grösserer Vielfalt liesse sich letztlich auch ein zahlenmässig bedeutsames Publikum erschliessen und so der Finanzierungskrise entgegenwirken.
Selbstverständlich schaffen Bindestrichidentitäten nicht zwangsweise mehr Vielfalt in den Redaktionen, bringen nicht unbedingt andere Themen ins Blatt. Dies mag daran liegen, dass der Anpassungsdruck hoch ist: nicht deutlich Partei zu ergreifen, um journalistisch ernst genommen zu werden und keinesfalls als aktivistisch zu gelten. Oder weil man sich von anderen «Fremden» abgrenzen will. Im Übrigen ist Rassismus nicht bloss ein Thema, dass davon Betroffene interessieren sollte.
Damit sich in den Schweizer Redaktionen etwas ändert, muss der Druck steigen, darf der Status quo nicht mehr akzeptabel sein. Gewonnen haben wir erst, wenn Leute mit fremd tönenden Namen wie selbstverständlich von der Bundesratswahl berichten, wenn Schwarze Expert*innen über Quantenphysik Auskunft geben. Und ein Schweizer Chefredaktor es der «Washington Post» gleich tut.
Mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung hat keine Vorfahren mit Schweizer Pass, doch die Redaktionen des Landes spiegeln diese Realität nicht wider. Warum das ein Problem ist.
Von Anna Jikhareva
Wie aktives Engagement für einen diversen Medienbetrieb aussehen kann, hat diesen Sommer die «Washington Post» demonstriert: Mitten in die Black-Lives-Matter-Proteste hinein kündigte das Blatt an, über ein Dutzend Redaktor*innen und Kaderleute mit dem Fokus auf «race» einzustellen. «Dieser historische Moment in der US-Geschichte erfordert, dass wir unsere Berichterstattung überdenken und unsere Ressourcen rund um Fragen von ‹race›, ethnischer Zugehörigkeit und Identität bündeln, die offensichtlich grössere Aufmerksamkeit verdienen», begründete Chefredaktor Marty Baron den Schritt. «Mit diesem Ausbau werden wir unseren Journalismus integrativer gestalten.»
Auch in der Schweiz gingen diesen Sommer Tausende gegen Rassismus auf die Strasse. Eine Reaktion wie jene der «Washington Post» wäre hierzulande allerdings undenkbar. Zwar dominierte das Thema wochenlang die Schlagzeilen, doch wer genauer las, merkte schnell, wie wenig Expertise auf dem Gebiet in den Redaktionen vorhanden zu sein scheint. Die SRF-«Arena» zum Thema mag das krasseste Beispiel interkultureller Inkompetenz sein, Nachhilfe in reflektierter, antirassistischer Berichterstattung hätte es aber vielerorts gebraucht.
Zuweilen hatte man das Gefühl, die Medienschaffenden hätten noch nie von der Existenz diskriminierender Strukturen, von Racial Profiling, von Rassismus gehört. Auch aus diesem Grund haben sich die Neuen Schweizer Medienmacher*innen just in diesem Moment an die Öffentlichkeit gewagt: weil das Diversitätsproblem des Schweizer Journalismus in jenem Moment einmal mehr schmerzlich sichtbar wurde, als entsprechendes Wissen umso wichtiger gewesen wäre.
Mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung hat keine Vorfahren mit eidgenössischem Pass. Migration ist seit Jahrzehnten eine Realität, sie findet statt, hat die Gesellschaft längst verändert. Dies wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Die Redaktionen des Landes spiegeln diese Realität allerdings nicht wider: An den meisten Konferenztischen ist kein Platz für Bindestrichidentitäten.
Die meisten Biografien der Medienschaffenden sind sich ähnlich, die Redaktionen zu männlich besetzt, zu weiss, zu akademisch. Und während viele Medienhäuser Frauenförderung längst zur Chefsache erkoren haben, sich dort langsam, aber sicher etwas tut, steht die Schweiz bei der Förderung von Menschen mit Migrationsgeschichte noch ganz am Anfang.
Verlässliche Zahlen – ja, auch das ist schon Ausdruck der Problematik – zu dieser Misere existieren nicht. Schätzungen gehen aber davon aus, dass zwei bis drei Prozent der Schweizer Journalist*innen Migrationsgeschichte haben. In Deutschland, wo sich viele Redaktionen schon länger um Diversität bemühen, ist gerade eine Studie mit ernüchterndem Ergebnis erschienen: Von 126 befragten Chefredaktor*innen sind 118 Deutsche ohne Migrationshintergrund, «kein Chefredaktor und keine Chefredaktorin, der oder die Schwarz ist, aus einer muslimisch geprägten Familie oder einer der grössten Einwanderergruppen stammt.» Für die Schweiz dürfte das Bild noch düsterer ausfallen.
Im Journalismus geht es darum, Geschichten zu erzählen. Um einen Blick für Themen, für Relevanz, einen Blick auf die Welt. Geprägt ist dieser Blick noch viel zu oft von Leuten, die einen ähnlichen Ausschnitt der Welt kennen. Dabei gehen die Stimmen jener unter, die aufgrund biografischer Expertise eine andere Sicht einbringen könnten. Denen womöglich auffallen würde, wenn in einer Sendung mit dem Titel «Jetzt reden wir Schwarze» drei von vier Redepulten in der ersten Reihe von Weissen besetzt sind.
Journalismus ist nicht einfach die Wiedergabe von Fakten, sondern bringt im besten Fall auch eine Erfahrung und eine Haltung zum Ausdruck – und die sind stets durch die eigene Biografie bestimmt. Es ist nicht nur wichtig, wie über Themen berichtet wird, sondern auch wer darüber berichtet. Weil es einen Unterschied macht, wer eine Sprechposition erhält und wessen Name unter dem Leitartikel steht.
Die meisten Journalist*innen befassen sich mit Themen, die sie selbst interessieren, die sie am Schluss in irgendeiner Weise auch selbst betreffen. In einer homogenen Redaktion können Geschichten über Ausgrenzung, Rassismus oder Sexismus deshalb leicht untergehen. Finden die Themen doch statt, behandelt man sie oft ungeschickt bis ignorant. People of Color oder Menschen mit fremd tönenden Namen kommen oft nur dann vor, wenn Migration als Problem oder Anomalie verhandelt wird. Oder ist in «10 vor 10» schon mal ein Afroschweizer zur Bundesratswahl befragt worden, eine junge Frau mit Kopftuch zur SVP? Nicht als Exot, sondern als Mitbürgerin?
Selbst wenn man rein ökonomisch argumentieren würde, ist es übrigens unverständlich, dass die meisten Medien so leichtfertig auf diese Stimmen verzichten. Mit grösserer Vielfalt liesse sich letztlich auch ein zahlenmässig bedeutsames Publikum erschliessen und so der Finanzierungskrise entgegenwirken.
Selbstverständlich schaffen Bindestrichidentitäten nicht zwangsweise mehr Vielfalt in den Redaktionen, bringen nicht unbedingt andere Themen ins Blatt. Dies mag daran liegen, dass der Anpassungsdruck hoch ist: nicht deutlich Partei zu ergreifen, um journalistisch ernst genommen zu werden und keinesfalls als aktivistisch zu gelten. Oder weil man sich von anderen «Fremden» abgrenzen will. Im Übrigen ist Rassismus nicht bloss ein Thema, dass davon Betroffene interessieren sollte.
Damit sich in den Schweizer Redaktionen etwas ändert, muss der Druck steigen, darf der Status quo nicht mehr akzeptabel sein. Gewonnen haben wir erst, wenn Leute mit fremd tönenden Namen wie selbstverständlich von der Bundesratswahl berichten, wenn Schwarze Expert*innen über Quantenphysik Auskunft geben. Und ein Schweizer Chefredaktor es der «Washington Post» gleich tut.